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30 Jahre Deutsch lernen

Mark Twain hat - vor einiger Zeit -  behauptet, man könne Englisch (abgesehen von der Aussprache und der Orthographie) in 30 Stunden, Französisch in 30 Tagen und Deutsch in 30 Jahren lernen. Jeder (und jede), der (die) Englisch oder Französisch gelernt hat, weiß, dass Mark Twain da etwas zu optimistisch war. Und bei Deutsch? Braucht man wirklich 30 Jahre? Seit 1985 unterrichte ich schon und nun sollen gerade die ersten Studierenden soweit sein, dass ich ihnen sagen dürfte: Jetzt könnt ihr Deutsch!? Eine beunruhigende Vorstellung -  vielleicht nicht für uns DeutschlehrerInnen, denn wir bräuchten uns um unsere Jobs keine Sorgen machen (hingegen die armen EnglischlehrerInnen…)!

Nein, keine Sorge, ich kann aus langjähriger Erfahrung sagen, die meisten erzielen doch in deutlich kürzerer Zeit ganz gute Erfolge, können in Wien (oder in anderen deutschsprachigen Städten) studieren, arbeiten, Freund- und Partnerschaften schließen - und meist sogar die Feinheiten des Wienerischen (oder eines anderen Dialekts) ganz gut verstehen. Etwa, dass die Frage eines Kellners: "Wos hätten´S denn woin?" keinesfalls die Unmöglichkeit der Wunscherfüllung infolge Zeitablauf ausdrücken soll (wie man es beim Gebrauch des Konjunktiv Plusquamperfekt eigentlich annehmen würde), sondern nur besonders beflissene Höflichkeit (frei nach einer Glosse von Daniel Glattauer).

Oder sind die 30 Jahre sogar zu wenig? Wer könnte schließlich schon sagen, er/sie beherrsche die Sprache. Beherrscht die Sprache nicht uns? Und wir, Lernende wie Lehrende, können, bewahren wir uns unsere kindliche Neugier,  jeden Tag Neues, Überraschendes, Verstecktes, Seltsames, Mögliches und Unmögliches entdecken...

Es muss schon einige Jahre her sein, denn Carola war eigentlich aus Mexiko gekommen, um über die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland zu berichten und dafür Deutsch zu lernen. Sie hatte zuvor wirklich noch kein Wort Deutsch gelernt, aber bereits in der ersten Woche kam sie zu mir, um mir mitzuteilen, sie habe entdeckt, dass man Adjektive konjugieren könne - was ich ihr nicht so einfach glauben wollte. "Aber ich kann: Ich weiß, du weißt, er/sie/es weiß! You see…" Carola schrieb zwar nicht über die Fußballweltmeisterschaft, lernte aber nicht nur in einem unglaublichen Tempo Deutsch (sorry, Mr. Twain), sondern auch einen Österreicher kennen, heiratete ihn und hat nun zwei entzückende Mädchen. Die beiden sprechen übrigens nicht nur Spanisch und Deutsch, sondern auch recht gut Englisch, weil Carola ihnen von klein an auch englischsprachige DVDs mit speziellen Kinderprogrammen vorspielte. Als Carola einmal ihre ältere Tochter fragte, welche ihre Lieblingssprache wäre, antwortete die überraschenderweise: "Englisch!" "Warum nicht Spanisch oder Deutsch?" "Spanisch spreche ich mit dir, Deutsch mit Papa, aber Englisch ist für uns zum Spielen."

Verblüfft war ich auch vor etwa zwei Jahren, als eine Studentin aus der Slowakei wusste, was "Kehricht" bedeutet: Wir nahmen gerade eine Übung mit Verbpräfixen zu "gehen" durch. Und da stand der Satz: Das geht dich einen feuchten Kehricht an! Normalerweise sind solche Sätze, leicht veraltete, wenig gebräuchliche idiomatische Wendungen eine wunderbare Gelegenheit für die Lehrkraft ihr Wissen, ihr Erklärungsvermögen unter Beweis zu stellen. Aber Dana wusste sofort, das ist Schmutz, Mist, Müll. Woher sie ausgerechnet dieses seltene Wort kenne? "Vom Studium in Dänemark. Ich habe dort Abfallwirtschaft studiert." "Und dort sagt man Kehricht?" "Nein, aber in der Schweiz, mein Professor kommt aus der Schweiz. Und er sagt nicht Müllverbrennungsanlage, sondern Kehrichtverbrennungsanlage." Man lernt eben auch als Lehrer nie aus.

Natürlich lernen die meisten von uns eine Sprache nicht unbedingt aus reiner Freude am Entdecken, Fremdsprachen werden gebraucht, fürs Studium, für den Beruf, für die Karriere, möglichst schnell, möglichst effektiv, möglichst nebenbei. Aber - banal, aber nun auch neurophysiologisch belegbar - mit genügend Motivation, Interesse und Neugier kann man in 30 Stunden eine Menge Deutsch lernen und auch nach 30 Jahren mit Vergnügen sein Englisch verbessern.

Kurt Krottendorfer, Deutschlehrer am Sprachenzentrum