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Worte oder Wörter?

Als ich letztens so durch meine Wohnung schritt und durch die blank geputzten Fenster blickte, kamen mir so manche Wörter in den Sinn, die ich in einen Blogbeitrag über die Lexik der deutschen Sprache verwandeln könnte – und siehe da, hier lest ihr meine Worte. Oder wie war das nochmal?

1. Worte oder Wörter?

Dass es im Deutschen ein Wort gibt, ist eine klare Sache. Was aber, wenn mehrere davon auftauchen? Ist dann der Plural „Worte“ angebracht oder doch lieber „Wörter“? Die Antwort ist eigentlich gar nicht so kompliziert: Wenn ich eine Liste mit Vokabeln lerne, lerne ich Wörter (am besten auch gleich mit Artikel :)).

Doch das, was mein Vater bei meiner Hochzeit gesprochen hat, und mich zu Tränen gerührt hat, waren eindeutig Worte. Und zwar deshalb, weil mein Vater in zusammenhängenden Sätzen gesprochen hat, die einzelnen „Wörter“ also in einen Sinnzusammenhang gebracht hat. Sie sind somit zu „Worten“ geworden.

2. Dasselbe oder das Gleiche?

Nehmen wir an, eine Freundin ruft voller Entzücken aus: „Was für einen hübschen Pulli du hast! Ich habe denselben!“, dann sollte mir Folgendes auffallen: Pullover haben wir jede einen, also kann es nicht „derselbe“ sein. Was sie gemeint hat, ist, dass wir den „gleichen“ Pulli haben, also insgesamt zwei Stück, die genau gleich aussehen. Und die sind hübsch, keine Frage.

3. Scheinbar oder anscheinend?

Österreich hat die Corona-Krise „scheinbar“ im Griff. Oder hat es sie „anscheinend“ im Griff? Der Unterschied zwischen diesen beiden Wörtern ist: Mit „anscheinend“ drücke ich etwas aus, das so ist, wie es aussieht. Wenn die Infektionsfälle nicht rasant steigen und auch die Krankenhäuser nicht komplett überlastet sind, haben wir die Krise „anscheinend“ im Griff. „Scheinbar“ hingegen besagt, dass etwas nur dem Schein nach, nicht aber in der Realität so ist, wie es dargestellt wird. Wenn Österreich die Krise also nur „scheinbar“ im Griff hat, haben wir ein großes Problem, denn dann haben wir gar nichts im Griff und wollen das aber in der Öffentlichkeit nicht so darstellen.

4. Lieben wir uns oder lieben wir einander?

Das sogenannte reziproke Pronomen „einander“ drückt eine Beziehung aus, die auf der Wechselseitigkeit von zwei oder mehr Subjekten beruht. Was das bedeutet? Also in unserem Fall würde „einander lieben“ bedeuten, dass ich dich liebe und du mich (im Gegensatz zu ich liebe mich und du liebst dich), was ja auch meistens mit der Aussage beabsichtigt ist. Nun hat sich aber im Sprachgebrauch doch das Reflexivpronomen „sich“ meist durchgesetzt. „Wir lieben einander“ wird als gehoben oder sogar spießig wahrgenommen oder erinnert zumindest an die Ausdrucksweise des Urgroßonkels. 

Trotzdem gibt es immer noch Fälle, in denen der Verzicht auf das „einander“ Verwirrung auslösen kann. Im Satz „Sie frisierten sich“ ist beispielsweise nicht erkennbar, ob sie jede*r sich selbst oder sie sich gegenseitig frisiert haben. Und das könnte sich zumindest auf die Frisur erheblich auswirken!

Nachdem ich nun endlich geklärt habe, wer wen frisiert und dass dasselbe anscheinend doch nicht das Gleiche wie das Gleiche ist, werde ich meine Worte nun beenden mit dem Gefühl, einen äußerst produktiven Nachmittag hinter mich gebracht zu haben. Es lebe die deutsche Lexik!


Elisabeth Graf
Dozentin für Deutsch als Fremdsprache am Sprachenzentrum.

Reisen und Sprachenlernen sind ihre größten Hobbys und in der Tat war ihr sechsjähriger Aufenthalt in Santiago de Compostela (Spanien) ausschlaggebend dafür, dass sie sich heute leidenschaftlich gern mit der deutschen Sprache auseinandersetzt.

 

 

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