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Beten in Jerusalem

Im letzten Teil der Blogserie "Schatzkästlein der reisenden Germanistin" nimmt uns Eva Mühlbacher mit auf eine Reise in die heilige Stadt, in der Gefühle und Klänge noch viel tiefer gehen als an vielen anderen Plätzen dieser Welt.

Grabeskirche in Jerusalem

Podcast

verfasst und vorgelesen von:

Eva Mühlbacher

Eine Stadt besteht aus so viel mehr als aus ihren Gebäuden. Als ich den Prozess des Reisens begann, konzentrierte ich mich darauf, alle Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Jeder tut das, wenn er oder sie zum ersten Mal in eine Stadt kommt. Aber je mehr Städte man bereist hat, desto mehr Gefühl bekommt man für die leisen Zwischentöne – für alles das, was in der Stadt passiert. Wie sie leuchtet, wie sie riecht, wie sie sich anhört.

Vor zwei Jahren besuchte ich die Stadt Jerusalem. Heute weiß ich nicht mehr, was ich erwartet hatte. Aber ich weiß noch: es war ganz anders. Nichts hätte mich auf die Flut von Eindrücken vorbereiten können. Wir wohnten im Österreichischen Hospiz. Am ersten Tag plauderte ich mit dem Portier. Er erzählte mir, dass er an diesem Ort geboren worden war. Ungläubig fragte ich: „Genau hier?“ „Genau hier“, gab er schmunzelnd zur Antwort. Denn das Gebäude war ein Krankenhaus gewesen. Wenn man die Anordnung der Zimmer genau betrachtete, hätte ich wirklich früher darauf kommen können. Ich sah mich in der alten Lobby um, in der Empfangshalle, in dem kleinen Café, dessen mit dunkelrotem Samt verkleidete Wand Bilder von Sisi und Franz Joseph trug.

Als ich aus der schweren Holztür trat, um die Stadt zu erkunden, begleitete mich aber nicht das Sehen. Etwas Anderes ließ mich die Stadt erleben: ihr Klang.

Ich kannte das laute Schwatzen der Straßen Roms und das Hupen in den schmalen Gassen von Paris. Ich hatte das Stimmengewirr der abendlichen Partygeher im Ohr, die sich in Lissabon in verwinkelten Abzweigungen verlor. Ich kannte das von der Hitze gedämpfte Murmeln auf einem Marktplatz in Santa Fe. Aber nie habe ich eine Stadt über die gesprochenen Gebete wahrgenommen. Es sind diese Stimmen, die heute bei mir sind, wenn ich die Augen schließe und zurückreise.

Für mich begann der Tag damit, dass der Freund, mit dem ich gereist war, sein jüdisches Gebet sprach. Die Sonne schien durch die Vorhänge in das Zimmer. Zwischen dem Fenstersims und dem Vorhang sah ich den Schatten seiner Gestalt hin und her wiegen. Seine dunkle Stimme übertrug sich auf meine Wahrnehmung. Es war ein tiefer Frieden, der für mich von den unbekannten Worten ausging. Sie wogen schwer in meinen Ohren, aber auch besänftigend und sicher. Die Worte der fremden Sprache trafen nicht auf meinen Verstand, sondern auf mein innerstes Gefühl. Ich nahm den tiefen Glauben an die Unendlichkeit wahr, an die Schöpfung selbst. Es war, als klangen die Worte nicht nur durch den Vorhang zu mir, sondern über Jahrhunderte hinweg.

Am Vormittag beschloss ich, mir die Grabeskirche anzusehen. Die christlichen Gebete, die dort in verschiedenen Sprachen an mein Ohr drangen, hatten unendlich viele verschiedene Rhythmen. Es war, als würde ich unterschiedliche Instrumente des gleichen Orchesters wahrnehmen. Manche waren verstimmt, andere klangen hell und klar. Mir begegneten flüsternde Stimmen, deren Worte nur für sie selbst und Gott gedacht waren. Die Stimme flüsterte dem kleinen Schrein vor sich etwas zu; ein Geheimnis, dessen ich nicht teilhaftig werden durfte. Es war die Stimme einer Frau. Und obwohl ich kein Wort verstehen konnte, wusste ich: sie hatte jemanden verloren. Es war der Klang der Trauer, der sie umgab. Eine andere Frau stürzte sich mit schrillen Lauten auf die Grabplatte, die direkt am Eingang lag. Es war, als wolle sie mit ihrer Stimme jeden Winkel der heiligen Stätte ausfüllen. Die Worte klangen abgehackt, gehetzt, unwirklich betont. So viel mehr lag in dem, was sie sagte, als bloß ein oft wiederholtes Gebet. Die Stimmen trugen mich aus der Kirche hinaus, hinein in eine andere, wo ich die Stille fand. Auch die Stille gehört zu einem Ort und hier war sie übermächtig. Ich kniete nieder. Ob meine Stimme sich wohl in die anderen einreihen würde?

Fünf Mal am Tag rief der Muezzin sein Gebet. So auch, als wir zu einem Konzert aufbrachen. Ich stieg auf den kleinen Turm, der als Aussichtsplattform diente. Mein Rocksaum streifte den uralten Stein, der im Abendlicht einen eigenen Glanz trug. Während ich den Sternen entgegenging, erhob sich die Stimme des Muezzins. Er stand in einem schlanken Turm, dessen Fenster filigrane Ornamente zierten. Sein Beten klang leicht, spielerisch. Es war, als breitete er ein Seidentuch über die Dächer der Stadt, das alle anderen Stimmen für einen Moment zum Schweigen brachte. Der Gesang war lebhaft und leicht, mit einem orientalischen Klang für meine westlichen Ohren, der etwas Sehnsüchtiges in sich barg. Diese Stimme war Musik für sich alleine. Sie tönte schwerelos über die alte Stadt bis hinaus zum Ölberg.

Am späteren Abend besuchten wir ein jüdisches Konzert in einem kleinen Innenhof. Die Klänge, zu denen gesungen wurde, ordnete ich nahe des Jazz ein. Wieder verstand ich kein Wort, aber es war ein fröhliches Beten, das sich nahe an der Welt bewegte. Nichts klang nach ewigem Versprechen. Alles verhieß den Lebensmut der Gegenwart. Wir tranken süße Säfte und lauschten, wie die Melodien sich in den Nachthimmel erhoben. Auf dem Balkon gegenüber saß ein altes Ehepaar, das die Beine mit Decken umwickelt hatte. Ihre Stühle standen nahe beieinander und sie klatschten ausgelassen, wenn der Ton eines jeden Liedes verklungen war.

Der Klang der Sprachen, dachte ich bei mir, als ich bei meiner Abreise an den Soldaten vorbeiging, die überall in der Stadt positioniert waren; er verbindet doch alle Menschen hier. Nicht einen einzigen Misston habe ich gehört; nichts, was sich nicht einfügte in das Puzzle der Wünsche und Träume, des Glaubens und der Lebensweisheit. Ich habe diese Stadt nicht nur gesehen. Ich habe sie gehört. Und ich wünschte ihr und mir, dass wir einander ohne das Knirschen der Soldatenschuhe wieder hören würden.


Eva Mühlbacher

Geschichte-Doktorandin und Jungautorin

Eva hat am Sprachenzentrum Italienisch gelernt und während eines Italienaufenthaltes angefangen, ein Buch zu schreiben. Ihre große Leidenschaft gilt - neben dem Schreiben - dem Mixen von Bahama Mama-Cocktails.

 

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