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Hör-Seh-Verstehen, what’s that?

Hör-Seh-Verstehen, what’s that?

Haben Sie schon mal vom Hör-Seh-Verstehen gehört? Nein, ich meine nicht Hörverstehen, denn das kennen alle, sondern ich meine Hör-Seh-Verstehen. Was das Hör-Seh-Verstehen auf sich hat und was es mit Fremdsprachenunterricht zu tun hat, möchte ich in diesem Blogeintrag vermitteln.

Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben. So stellt man sich doch Fremdsprachenunterricht vor, oder? Diese vier Fertigkeiten sind also ein fester Bestandteil sowohl des Fremdsprachenunterrichts als auch zahlreicher Sprachprüfungen, daher müssen sie auch trainiert werden. Doch es stellt sich für mich die Frage, ob das alles ist, was ein Fremdsprachenunterricht anbieten kann. Denn wenn es so wäre, würde ein wichtiger Rezeptionskanal, nämlich der Visuelle zumindest teilweise verloren gehen und das wäre schade, denn es ist für jeden Menschen typisch, Informationen auf verschiedenen Wegen zu bekommen und aufzunehmen. Es ist jedoch bewiesen, dass der eindeutige Schwerpunkt der Informationsaufnahme auf dem visuellen Kanal liegt. Mit den Augen werden zwischen 70% und 80% der Informationen aufgenommen, mit dem Ohr etwa 13%. Gesehenes bewirkt höhere Gedächtnisleistung, also kann man sich vorstellen, dass die Kombination zwischen Gesehenem und Gehörtem umso produktiver ist. Diese Erkenntnis in den Unterricht einfließen zu lassen ist meiner Meinung nach in Zeiten der Visualität und des Internets eigentlich ein Muss.

Im modernen Fremdsprachenunterricht wird also das klassische Vier-Fertigkeiten-Konzept durch das Hör-Seh-Verstehen oder die Fertigkeit der audiovisuellen Rezeption erweitert. Dahinter steht Ingrid Schwerdtfeger, die 1989 das Hör-Seh-Verstehen als "die übersehene fünfte Fertigkeit" bezeichnet hat. Seitdem ist das Interesse daran gestiegen und es sind zahlreiche Publikationen zu diesem Thema erschienen. Aber was kann man sich genau darunter vorstellen?

Hör-Seh-Verstehen bezeichnet die Fähigkeit der Lernenden, audiovisuelle Medien, d.h. Filme unterschiedlicher Genres in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen, zu verarbeiten und je nach Situation zu interpretieren. Beim gleichzeitigen Hören und Sehen geht es aber nicht um bloß bebildertes Hören, sondern um doppelsinniges Verstehen. Daher lässt sich sagen, dass Hör-Seh-Verstehen dem natürlichen Verstehen entspricht. Filme sind authentische Materialien, die unter anderem eine situationsbezogene lebensweltliche Sprachverwendung zeigen. Dies bietet den Sprachlernenden die Möglichkeit, über körpersprachliches Verhalten (Blick, Mimik, Gestik) und Raumverhalten sensibilisiert zu werden und darüber zu reflektieren.

Die große Herausforderung des Hör-Seh-Verstehen liegt natürlich in der Flüchtigkeit der visuellen und akustischen Zeichen, was einer alltäglichen Kommunikation sehr ähnlich ist. Um Überforderungen zu vermeiden und die Motivation der Lernenden aufrechtzuerhalten, sind der Niveaustufe entsprechende Aufgabestellungen vonnöten, die das Verstehen unterstützen sollten. Meiner Meinung nach kommt es nicht auf den Film an, sondern auf die Aufgaben. Denn man muss ja nicht alles verstehen (selbst MuttersprachlerInnen fällt es schwer, alles zu verstehen), sondern bloß die Aufgabe erfüllen.

Ok, bis jetzt wurde erwähnt, dass der fundierte Einsatz von Filmen im Unterricht einen großen Vorteil für den Lernprozess aufweist, nämlich Sensibilisieren auf verbale, para- und nonverbale Sprache und dadurch Verbesserung des Verständnisses und gestärkte Gedächtnisleistung. Ingrid Schwerdtfeger betont außerdem die Ausbildung von individueller Sprechfähigkeit und Sprechlust bei Lernenden. Denn Filme und die damit verbundenen Übungen und Unterrichtsmethoden sprechen ein anderes Gefüge von kognitiven und emotionalen Kräften in den Lernenden an, so Schwerdtfeger.

Filme im Fremdsprachenunterricht ermöglichen wie bereits erwähnt lebensweltliches Lernen. Die erzählten Geschichten und die dargestellten Personen knüpfen häufig an den Erfahrungen der Lernenden an und so wird ein persönlicher Bezug hergestellt. Durch das gemeinsame Sehen einer erzählten Geschichte wird auch die Gruppendynamik gestärkt, denn was man gemeinsam gesehen hat, möchte man auch gemeinsam besprechen. Das Gesehene wird zum authentischen Sprech- und/oder Schreibanlass und die Lernenden sind voll bei der Sache (das kann ich aus Erfahrung bestätigen).

Einige ForscherInnen im Bereich Hör-Seh-Verstehen und Filmeinsatz im Fremdsprachenunterricht sehen Filme als veranschaulichte Landeskunde. Das würde bedeuten, dass im Film Daseinsformen der Zielkultur(en) wie beispielsweise Geschichte, Politik, Kultur, Gesellschaft, Soziokultur etc. dargestellt würden. Von dieser Ansicht möchte ich mich jedoch fernhalten, denn Filme sind eine Darstellung einer fiktiven Realität, wodurch möglicherweise falsche oder modifizierte Bilder transportiert werden können. Manchmal werde ich von StudentInnen gefragt: „Sind alle Schweden so?“. Natürlich nicht, das ist nur ein Film! Filme sind dennoch Kunstwerke, die einen Einblick darüber geben, welche Themen, zu welchem Zeitpunkt, mit welchem ideologischen Konzept innerhalb einer Gesellschaft behandelt werden. Aber sie bilden nicht ab, weder die Gegenwart, noch die Vergangenheit, so Tina Welke, eine Forscherin in diesem Bereich. Dies sollte die Lehrkraft auch klarstellen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass es in diesem Land so üblich ist und Filme keine Stereotypenquellen werden.

Audio-visuelle Texte sind ein Schlüssel zur Sprache, so Tina Welke, und ich schließe mich dieser Ansicht an. Die Anwendung von Filmmaterial macht den Fremdsprachenunterricht bereichert und abwechslungsreicher. Darüber hinaus werden sowohl die Sprachrezeption, als auch die Sprachproduktion gefördert. Die Anwendung von Filmen im Unterricht gibt einen Anlass zu einem authentischen Gespräch, zu einer Stellungnahme, vielleicht auch zu einer Diskussion, da letztendlich jedes Individuum das Gesehene eigens erlebt und interpretiert. Aus diesem Grund sehe ich Filme als ein enormes Potenzial für den Fremdsprachenunterricht. Nicht zuletzt stellt die Arbeit mit Filmen eine zusätzliche Herausforderung für die Lehrkraft dar, jedoch bin ich der Meinung, dass der Kreativität im Unterricht keine Grenzen gesetzt sein sollen und gerade Filme bieten einen unvergleichbaren Anlass für abwechslungsreiche, unterhaltsame und produktive Arbeit, die für jede Lehrkraft unbezahlbar ist.

 

Mihaela Mihova, Deutsch- und Schwedischlehrerin am Sprachenzentrum der Universität Wien

 

Verwendete Literatur

Biechele, Barbara: Film/Video/DVD in Deutsch als Fremdsprache- Bestandaufnahme und Perspektiven. In: Barkowski, Hans/Wolff, Armin (Hrsg.): Materialien Deutsch als Fremdsprache. Heft 76. Umbrüche. Fachverband Deutsch als Fremdsprache. Regensburg 2006. S. 309-328.

Biechele, Barbara: Verstehen braucht Sehen: entdeckendes Lernen mit Spielfilm im Unrerricht Deutsch als Fremdsprache. In: Welke, Tina/ Faistauer, Renate (Hrsg.): Lust auf Film heißt Lust auf Lernen. Der Einsatz des Mediums. Praesens-Verlag Wien 2010. S. 13-32.

Biechele, Barbara: Hör-Seh-Verstehen. Betrag in: Barkowski, Hans/Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Fachlexikon Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Francke, Tübingen und Basel, 2010. S. 118, Sp.2

Faistauer, Renate: Die sprachlichen Fertigkeiten. In: Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. 2. Berlin u.a.: De Gruyter Mouton, 2010, S. 961-969.

Faistauer, Renate: Prinzipien im Sprachunterricht = Prinzipien für die Arbeit mit Filmen im Sprachunterricht?! In: Welke, Tina/ Faistauer, Renate (Hrsg.): Lust auf Film heißt Lust auf Lernen. Der Einsatz des Mediums. Praesens-Verlag Wien 2010. S. 33-45.

Harms, Michael: Augen auf im Unterricht- psychologische und didaktische Aspekte des Lernens mit Bildmedien. In: Duxa, Susanne u.a. (Hrsg.): Grenzen überschreiten: Menschen, Sprachen, Kulturen; Festschrift für Inge Christine Schwerdtfeger zum 60. Geburtstag. Gunter Narr Verlag. Tübingen 2005. S.245-256.

Sass, Anne: Filme im Unterricht – Sehen(d) lernen. In: Fremdsprache Deutsch, Heft 36 Sehen(d) lernen 2007. S. 5 - 13.

Schwerdtfeger, Inge: Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin, München: Langenscheidt. 1989

Welke, Tina: Ein Plädoyer für die Arbeit mit Kurzfilmen im Unterricht. Fremdsprache Deutsch 36, S. 212- 8. 2007

Welke, Tina: Haben Sie den gesehen? Film - Filmbildung - Filmdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: ÖDaF Mitteilungen (Hrsg.)(2013), Österreichisches Verband für DaF/DaZ, Heft 2. Wien 2013. S. 48-61.