verfasst und vorgelesen von:
Die Stadt an der Küste sah ich in dem Frühsommer, in dem meine Beziehung zu Ende gegangen war. Portugiesisch hatte ich nie gelernt – nur von der WM wusste ich, was Seleção bedeutete. Und genauso fühlte ich mich: wie eine Auserwählte. Alles, was diese Reise hatte sein sollen, war, auf andere Gedanken zu kommen. Meine Cousine und ich suchten eine europäische Stadt aus, in der noch keine von uns gewesen war. Zum ersten Mal sah ich Lissabon am frühen Abend, als ich vom Hügel aus über die Häuserzüge blickte, die sich vor mir in Richtung Meer ergossen. Die Stadt breitete sich an diesem Ort aus als hätte sie sich dort vor einer Ewigkeit zum Schlafen hin gebettet und wäre dann einfach geblieben.
Es waren heiße Frühsommertage. Das Meer glänzte vor unseren Augen und schickte immer wieder kühlende Winde durch die Straßenzüge der Stadt, die sich in unsere luftige Kleidung verirrten. Was ich an Portugiesisch sofort hervorragend und furchteinflößend fand, war, dass man absolut nichts so auszusprechen schien wie man es schrieb. Abgesehen nämlich von den Grußformeln wurde uns sehr schnell ein anders Wort ans Herz gelegt: Pastéis de Belém. Ja, erraten. Es hat etwas mit Essen zu tun. Es handelt sich dabei um kleine runde Törtchen, die aus Vanillepudding und Gewürzen bestehen (Pastéis). Natürlich aber sollten es nicht einfach nur irgendwelche Törtchen sein, sondern jene aus dem Viertel Belém, das man faszinierenderweise wie Beleng aussprach. Wir beschlossen, diesen heiligen Gral des Gaumens zu finden und stiegen in die Straßenbahn, um nach Belém zu fahren. Dort fanden wir die kleine Bäckerei und orderten das süße Gebäck. Wir setzten uns auf eine kleine Parkbank und hörten das nahe Rauschen des Meeres. Vergnügt bissen wir in die runden Törtchen. Die schwere Süße legte sich auf unsere Zungen. Ich hatte mir Gebäck des warmen Südens ganz anders vorgestellt. Es war intensiv, flaumig durch den Pudding und überraschend durch den Schuss Zitrone. Ich verliebte mich in die raffinierte Mischung aus Schwere und Leichtigkeit, die ich an diesem Sommertag schmeckte.
Abends wollte meine Cousine in ein Restaurant gehen, in dem Fado gesungen wurde. Das Lokal war klein und verwinkelt. Während wir Vor-, Haupt- und Nachspeise aßen, traten verschiedene Sänger und Sängerinnen auf. Wir hörten einen älteren Herrn, der in seinem berüschten Kostüm etwas zum Besten gab, das an ein Wienerlied erinnerte. Es trat eine Frau auf, die in schwarze Spitze gehüllt sang und zwischendurch jammervolle Klagelaute ausstieß. Und dann kam ein dicklicher Mann, der die Stimme erhob. Ich blickte auf, weil ich mich in einer Art und Weise angesprochen fühlte, als hätte er meinen Namen gerufen. Kein Instrument begleitete ihn. Da war nur seine tiefe Stimme, die eine Geschichte erzählte. Ich verstand kein Wort, aber ich wusste ganz genau, wovon er sang. Es war die Geschichte einer verlorenen Liebe. Die Augen hatte er geschlossen, während die stickige Luft seine Stimme in alle Winkel des Raumes trug. In dieser Stadt, die träge am Meer ruhte, sang er von der Unendlichkeit der Gefühle. Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und war plötzlich in einer Hafenkneipe, von der aus Schiffe an den Horizont segeln sollten. Die Männer trugen einander Geschichten über ihr Leben vor – gesprochen, geseufzt, oft empfunden oder nur ein einziges Mal, das ein Leben für immer verändern konnte. Vor meinem geistigen Auge öffnete sich eine Welt der Emotionen, die über Jahrhunderte hinweg ihre Wahrheit nicht verloren hatten.
Es waren Geschichten wie die zuckersüßen Pastéis – geprägt von Leichtigkeit, aber auch Schwere, die jedem Gefühl, das Bedeutung hatte, naturgemäß innewohnte. Ich möchte fast sagen, dass das, was ich an diesem Abend hörte, die Seele Lissabons war. Die Leichtigkeit, die die Sonne über die Hügel ergoss; die Schwere, mit der dort geliebt und gelebt wird. Ich fühlte mich einsam, weil ich wusste, dass eine Trennung wie ich sie erlebt hatte, noch ein weiterer Weg war als ans Ende Europas. Aber ich fühlte mich auch stark, weil ich nicht die einzige war, die jemals so gefühlt hatte. Sein Gesang sickerte in mein Gehör. Es durchdrang meine oberflächlichen Gedanken und blieb in seiner Süße an meinen Sinnen haften.
Dass ich zu weinen begonnen hatte, merkte ich nur, weil meine Cousine nach meiner Hand griff und mich anlächelte. „Es ist alles gut“, sagte sie und diesen Satz verbinde ich bis heute mit dem einen Wort, das der Sänger in diesem Augenblick sang. Tränen liefen meine Wangen hinunter und er sang noch einmal: Saudade. Seit diesem Tag weiß ich, welchen Klang die Sehnsucht hat.
Eva Mühlbacher
Geschichte-Doktorandin und Jungautorin
Eva hat am Sprachenzentrum Italienisch gelernt und während eines Italienaufenthaltes angefangen, ein Buch zu schreiben. Ihre große Leidenschaft gilt - neben dem Schreiben - dem Mixen von Bahama Mama-Cocktails.
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