Wir sind weit weg von Wien, weit weg von Österreich. Vor 100 Jahren wären wir noch im selben Land gewesen. Damals gab es eine Bahnverbindung, die es heute nicht mehr gibt. Wenn man den Schienen folgte, landete man direkt in Wien. Jetzt sind es vier Züge und vier Länder.
Früher wäre alles auf Deutsch gewesen. Jetzt nicht mehr. Jetzt hört man Rumänisch und Ukrainisch. Deutsch ist weg, Ungarisch ist weg, Jiddisch ist weg.
Es gibt kaum Touristen. J. und ich reden Spanisch miteinander, aber für die, die uns hören, klingt es wie zwei verschiedene Sprachen. Die Melodien des argentinischen und spanischen Spanisch sind ziemlich verschieden. Andere Fahrgäste kommen vorbei und schauen uns an, aber niemand fragt uns etwas, es gibt keine gemeinsame Sprache. Doch – wir haben Glück – ein junger Mann steckt seinen Kopf durch die Tür herein. Er spielt in England Fußball und ist bei seiner Familie auf Besuch. Er kann uns ein bisschen darüber erzählen, wie das Leben entlang der Bahnstrecke ist: hart, keine Arbeit, kalte Winter. Vor Kurzem ist eine Lokomotive in Flammen aufgegangen. Wir zuckeln weiter.
Die Strecke verläuft neben einem Fluss, der eine Grenze ist. Ukraine auf einer Seite, Rumänien auf der anderen. Früher war es Galizien und es gab keine Grenze. Bei einem sehr kleinen Dorf steigt eine alte Dame ein und setzt sich zu uns. Sie trägt Schwarz: ein schwarzes Kleid, ein schwarzes Kopftuch. Ihr Gesicht ist von Falten durchzogen und spricht Bände. Ich sehe Einsamkeit und ein hartes Leben. Ich habe selten so helle blaue Augen gesehen. Der Schaffner spricht mit ihr. Die Melodie ihrer Sprache ist anders. Wir verstehen nur ein Wort: Timisvar. Mir kommt es bekannt vor.
Ein paar Dörfer später kommt ein Ehepaar zu uns ins Abteil. Es beobachtet uns. Die beiden mustern uns neugierig. Irgendwann sagt J. etwas auf Spanisch zu mir.
Der Mann fragt in gebrochenem Italienisch:
„Italiener?
„Nein, Argentinierin und Spanier, aber wir leben in Wien.“
Er kann Portugiesisch, da er in Portugal als Bauarbeiter gearbeitet hat und er spricht es in etwa so gut wie wir Italienisch. Ich frage mich, warum ich nicht weiter Portugiesisch gelernt habe. Ich merke, dass ich auch die Verben auf Italienisch wiederholen sollte. Ich stammle. Wir fragen ihn nach der alten Dame: Wer ist sie, woher kommt sie, wohin fährt sie? Sie schaut aus, als wäre sie aus einer anderen Zeit. Wir sind neugierig. Wir erfahren, dass sie zu der ukrainischen Minderheit gehört. Sie fährt nach Timisoara, damals Temeschwar. Sie benutzt sogar ein anderes Wort: Timisvar. Sie fragt, woher wir kommen. Wir sagen Wien. Ihre Mutter konnte ein bisschen Deutsch. Da sie der Generation der K.u.K-Zeiten angehörte.
Unser Gesprächspartner kann uns nicht weiterhelfen. Die alte Dame kann nicht so gut Rumänisch, er kann nicht so gut Ukrainisch und wir keine der beiden Sprachen.
Wir finden es schade. Wir hätten gerne weiter gefragt, wie es damals war. Sie hat sicherlich viel gesehen und erlebt. Wir hätten ganz gerne Geschichten aus anderen Zeiten gehört. Ich schaue wieder durch das Fenster. Immer noch Wald, der Fluss ist weg, es gibt weniger Hügel und mehr Dörfer. Alles schaut so aus, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Langsam wird es dunkel.
Das Ehepaar spricht weiter mit uns. Sie haben zwei Kinder. Eines lebt in England, eines in Cluj, damals Klausenburg. Die Tochter spricht sehr gut Englisch und Ungarisch. Sie heiratet bald. Die stolzen Eltern zeigen uns Fotos. Dann ist das Gespräch aus. Unsere gemeinsame Sprache reicht nicht aus, um weiter zu sprechen. Unsere Mischung aus Italienisch und Spanisch ist unverständlich für ihn.
So viele Sprachen. So viele Geschichten. Wir dachten, unsere vier Sprachen würden reichen. Es war nicht so. Wir wollten mehr verstehen, mehr erleben, mehr lernen.
Für uns ist eines klar, nächstes Semester lernen wir Rumänisch!
Alberto del Amo Gimeno unterrichtet Spanisch am Sprachenzentrum.
Er reist gerne mit seiner Kamera und ein paar Büchern. Er ist von Argentinien bis Mexiko gereist und meint: "Wenn alles klappt, ist es nur langweilig."
© Fotos: Alberto del Amo Gimeno
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