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Talent beim Fremdsprachenlernen:

Mythos oder Wahrheit?

Meine Muttersprache ist Bulgarisch und ich habe bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr in Bulgarien gelebt. Nichtsdestotrotz halte ich mich für zwei- oder für dreisprachig (vielleicht sogar mehrsprachig, denn ich beherrsche neben meiner Muttersprache Bulgarisch Deutsch und Schwedisch fließend und fast ohne Akzent, kann des Weiteren ganz gut Englisch und Dänisch und lerne gerade Russisch. Dies ist doch die Definition von Mehrsprachigkeit, oder :) ). Oft, wenn ich nach meinen Sprachkenntnissen gefragt werde, staunen die Leute darüber und erklären sich das Ganze mit einer Art Sprachbegabung bzw. Talent für Fremdsprachen, das ich angeblich besitze. Manchmal wird auch gefragt, wie lange und wo ich schon die jeweilige Sprache gelernt habe, sehr selten interessiert man sich aber für die Bemühungen und Initiativen, die meinen Lern- bzw. Erwerbsprozess gefördert haben. Oder anders gesagt werden diverse Faktoren, die das Fremdsprachenlernen begünstigen oder auch nicht, ausgeblendet und man hat ein Konzept einer Sprachbegabung.

Aus diesem Grund habe ich mir die Frage gestellt, ob der Erfolg mit Fremdsprachen auf eine Art Sprachbegabung zurückgeführt werden kann. Im folgenden Beitrag möchte ich dieser Frage nachgehen und diese mit Argumenten aus relevanten Theorien und Studien unterstützen.

Als Einstieg möchte ich eine relativ alte, aber oft zitierte Definition vom Begriff Begabung vorstellen. Diese stammt vom deutschen Entwicklungspsychologen William Stern, der Begabung als „Fähigkeit zu wertvollen Handlungen“ (Stern 1919: 292, zitiert nach Gieseke 2012: 23) beschreibt. Der Ausdruck wertvolle Handlungen enthält einen sozialen Aspekt, da wertvoll impliziert, dass die Handlung eine Bereicherung für die Gesellschaft bedeutet (vgl. ebd). Eine spätere Definition beschreibt Hochbegabte als „Personen, die im Vergleich zu einer Bezugsgruppe eine Leistung erbringen, die exzellent, selten, produktiv und wertvoll ist“ (Sternberg 1993, zitiert nach Gieseke 2012: 23).  Begabung scheint also ein komplexes Gebiet zu sein, das durch viele Vorstellungen geprägt ist.

Der Intelligenzforscher und Psychologieprofessor Howard Gardner hat die Theorie der vielfachen Intelligenzen entwickelt und neun verschiedene Intelligenzen definiert, unter anderem die sprachliche Intelligenz, die folgendermaßen beschrieben wird: „Die Fähigkeit Sprache, sei es die Muttersprache oder eine Fremdsprache, treffsicher einzusetzen, um eigene Gedanken auszudrücken, zu reflektieren oder andere zu verstehen“ (Eisenbart 2004: 8). Zur sprachlichen Intelligenz gehören „die Sensibilität für die gesprochene und die geschriebene Sprache, die Fähigkeit, Sprachen zu lernen, und die Fähigkeit, Sprache zu bestimmten Zwecken zu gebrauchen.“ (Gardner 2002: 55, zitiert nach Sabitzer 2012: 49).

Sprachliche Intelligenz besitzen demnach Personen, die sich so zu sagen „leicht mit Sprache tun“ und Berufe ausüben, bei denen Sprache eine zentrale Rolle spielt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es eine Begabung gibt, die explizit das Erlernen von Fremdsprachen begünstigt. In ihrem Beitrag definiert Sabitzer die Fähigkeit eines Menschen, „eine oder mehrere Fremdsprachen in kurzer Zeit mit wenig Aufwand und viel Gefühl auf relativ hohem Niveau zu erlernen“ als Fremdsprachenbegabung (Sabitzer 2012, S. 6). Dies bedeutet zum einen ein hohes Niveau in den Bereichen Grammatik und Lexik (Vokabular), zum anderen aber auch die Fähigkeit, Aussprache und Prosodie (Sprachmelodie) so gut nachzuahmen, dass kaum ein Unterschied zu einem „Native Speaker“ festgestellt werden kann. Auf dem Konzept der multiplen Intelligenzen stützend, erweitert Sabitzer die sprachliche Intelligenz noch um Sensitivität in Bezug auf Grammatik und fügt noch den Aspekt der Musikalität hinzu, da die Bereiche Melodie, Rhythmus und Aussprache musikalischer Natur sind (vgl. ebd., S. 13f). Satitzer betont zwar die Rolle der äußeren Faktoren (Umwelt) und der Motivation, Begabung wird aber in erster Linie als etwas Angeborenes betrachtet (vgl. ebd.).

Auch wenn viele unter Begabung in erster Linie etwas Biologisches bzw. Angeborenes verstehen, ist eine Reihe von Faktoren festzustellen, die beim Fremdsprachenerwerb bzw. –lernen eine Rolle spielen. Von den lernerInneninternen Faktoren erscheint mir das metalinguistische Bewusstsein (Sprachbewusstsein) in direkter Verbindung mit Sprachbegabung zu stehen. Metalinguistisches Bewusstsein bedeutet, „über den Bau von Sprache Bescheid zu wissen, darüber reflektieren und sprechen zu können und die eigene Sprache entsprechend dieser Überlegungen analysieren und kreativ verändern zu können.“ (Hufeisen 2003: 3f). Die Lernenden entwickeln im Laufe ihrer Sprachbiographien auch Sprachlernstrategien, welche wahrscheinlich in Abhängigkeit vom metalinguistischen Bewusstsein gezielt beim Erlernen der Zielsprache eingesetzt werden (vgl. ebd. S. 8). Besonders fördernd für den Lernprozess ist die intrinsische Motivation: „Ein Lerner, der nicht motiviert ist, eine Sprache zu lernen, wird wenige und langsame Fortschritte machen und vermutlich nie besonders weit in seiner Sprachentwicklung kommen. Hochmotivierte Lernende hingegen, die eine Sprache begeistert und dringend lernen (möchten), weisen in der Regel rasche und gute Lernfortschritte auf“ (ebd. S. 7). Gerade die lernerInneninternen Faktoren stehen meiner Meinung nach in direkter Verbindung mit dem allgemein verbreiteten Konzept der Fremdsprachenbegabung. Je höher die Motivation und die Freude an der Sprache sind, desto intensiver ist auch die Auseinandersetzung damit, was den Lernerfolg fördert.

Die lernerInnenexternen Faktoren werden von der Außenwelt ausgelöst, spielen aber meiner Meinung nach eine sehr bedeutende Rolle für den Lernprozess. Es geht um die Lernumwelt und den kulturellen Kontext, welche die intrinsische Motivation beeinflussen können (vgl. ebd., S. 10). Wenn man von der Zielsprache umgeben ist und viele Möglichkeiten hat, damit in Berührung zu kommen, ist der Lernerfolg zweifellos schneller.

Was bedeutet dies nun für die Fremdsprachenbegabung? Ist sie ein Mythos oder existiert sie wirklich? Die oben genannten Faktoren bestätigen nochmal die Annahme, dass Begabung ein Konstrukt ist und sich beeinflussen lässt. In der Tat gibt es Leute, denen Sprachenlernen leichter fällt. Aber Begabung nur als etwas Angeborenes zu sehen, wäre meiner Meinung nach eine starke Reduktion dieses Konstrukts, da diese Faktoren bestimmen können, ob und wie stark sich Begabung entwickelt oder zum Vorschein kommt.

Mihaela Mihova, Deutsch- und Schwedischlektorin am Sprachenzentrum der Universität Wien

Literatur

Eisenbart, Urs: Differenzieren mit Gardners 9 Intelligenzen. Netzwerk Begabungsförderung 2004. www.begabungsfoerderung.ch/pdf/tagungen/unterlagen_12/WS2_Bruehlberg/9%20Intelligenzen%20Garndners.pdf

Gieseke, Carolin-Susann: Erscheinungsformen von Sprachbegabung – Studie zur Sprachbegabung von Schülerinnen und Schülern an einem Münsteraner Gymnasium. 2012

Hufeisen, Britta. (2003). L1, L2, L3, L4, Lx - alle gleich? Linguistische, lernerinterne und lernerexterne Faktoren in Modellen zum multiplen Spracherwerb. Festschrift für Juliane House zum 60. Geburtstag. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht [Online], 8(2/3). 1-13. zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-08-2-3/beitrag/Hufeisen1.htm

Mönks, F.J. (1996). Begabungen erkennen- Begabte fördern. In: H. Joswig, Begabungen erkennen- Begabte fördern. Beiträge anlässlich der wissenschaftlichen Arbeitstagung des ABB e.V. in Rostock vom 22.-24.10.1999. S.19-33. Universität Rostock: Philosophische Fakultät.

Haun, Renate: Zusammenhänge zwischen mathematischer, musikalischer und sprachlicher Begabung. Wien 1956.

Katz, Rosa, Dr.Phil.: Philologische Frühbegabung. J.B. Wolters. Groningen, Djakarta, 1957.

Larsen-Freeman, Diane/Long, Michael H.: An Introduction to Second Language Acquisition Research. Longman, London/New York 1993.

Nodari, Claudio: Was heißt eigentlich Sprachkompetenz? In: Barriere Sprachkompetenz. Dokumentation zur Impulstagung vom 2. Nov. 01 im Volkshaus Zürich, SIBP Schriftenreihe Nummer 18, S. 9–14. Online unter: www.iik.ch/cms/wp-content/uploads/theorie/div/Was_heisst_Sprkompetenz.pdf 

Schütt, Hermann: Schule und Forschung. Heft 17: Fremdsprachenbegabung und Fremdsprachenleistung. Ein Beitrag zum Problem der prognostischen Gültigkeit von Fremdsprachenbegabungstests. Verlag Moritz Diesterweg. Frankfurt am Main u.a. 1974.

Winner, Ellen: Hochbegabt. Mythen und Realitäten von außergewöhnlichen Kindern. Stuttgart, Klett-Cotta. 1998