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Nur ein Wort

Eine Geschichte darüber, wie man einander auch mit wenigen Worten näher kommen kann.

Als meine Großmutter 83 Jahre alt war, fiel sie über die Schwelle des Hauses, in dem sie seit dem Tod ihres Mannes alleine gelebt hatte, und konnte nicht mehr aufstehen. Sie wurde erst Stunden später gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Dieses Ereignis machte allen klar, dass sie jetzt permanent Hilfe brauchen würde.

Ihr ganzes Erwachsenenleben hatte sie auf dem abgelegenen Bergbauernhof verbracht, weit von der nächsten Stadt, fast ohne Nachbarn, und sie wollte keinesfalls von dort weg. Deshalb musste jemand zu ihr ziehen, und über eine Agentur fanden ihre Kinder zwei Pflegerinnen aus Rumänien, die einander alle vier Wochen ablösten. Die ältere Dame kam aus Siebenbürgen und sprach deshalb perfekt Deutsch, sie war sehr tüchtig und resolut. Jedoch war es die jüngere Pflegerin, Bianca1 , die zu Beginn nur wenige Worte Deutsch konnte, welche meine Großmutter besonders ins Herz schloss.

Vor meinem ersten Besuch nach Omas Unfall hatte ich mich gefragt, wie Oma und die Rumäninnen sich verständigen würden. Meine Oma beherrschte keine Fremdsprachen und ich hatte sie nie anders als im Kärntner Dialekt sprechen hören, den die Pflegerinnen sicher nicht im Deutschkurs gelernt haben würden. Meine Zweifel erwiesen sich als unbegründet. Von einem an uns gerichteten „Kemts lei eina2“, drehte meine Großmutter sich zu Bianca um und sagte langsam und deutlich: „Könntest du bitte das Fenster schließen, mir ist ein bisschen kalt.“

Wir setzten uns auf die Eckbank und redeten über das Wetter, Omas Gesundheit und über die Landwirtschaft, und Bianca stellte Tassen und Teller auf den Tisch. Es war merkwürdig, Oma so ruhig sitzen und reden zu sehen. Ihr ganzes Leben war sie stets auf den Beinen gewesen, und selbst an Sonntagen, wenn wir sie besuchten, immer zwischen Tisch und Kredenz unterwegs, während die anderen ihren Braten genossen. Als Bianca uns Kaffee einschenkte, lächelte Oma ihr zu und murmelte: „Mulțumesc3, Bianca“, und Bianca antwortete: „Is schon guat, Oma“, und legte ihre junge Hand mit den roten Nägeln auf die runzligen, krummen Finger meiner Großmutter.

„Mochts eich kane Surgen4“, sagte Oma wenig später zu uns und wechselte mit einem Lächeln zu Bianca wieder mitten im Gespräch vom Dialekt ins Hochdeutsche: „Wir verstehen uns, gell?“

Sie war mir, das muss ich zugeben, in diesem Moment ein wenig fremd. Es war, als säße da plötzlich eine ganz andere Oma, eine richtig feine Dame aus der Stadt, die sich immer in der fleißigen und schweigsamen Bergbäuerin versteckt gehalten hatte. Meine Großmutter hat gegen Ende ihres Lebens aufgrund ihrer Demenz nicht mehr viel gesprochen, vielleicht erinnere ich mich deshalb so deutlich an jenen Nachmittag. Vermutlich hat sie auch dieses einzige rumänische Wort bald wieder vergessen gehabt, doch es hatte seine Wirkung getan.

Sie ist vor zwei Jahren an einer Grippe gestorben. Bianca konnte nicht zu ihrem Begräbnis kommen, weil sie sofort nach Omas Tod in einer neuen Familie zu arbeiten beginnen musste, doch meine Tante erzählte, dass sie ein paar Wochen später zusammen am Grab gestanden und geweint hätten. Mulțumesc, Bianca.

 


 

Martina Heuser hat in der Schule die deutsche Standardsprache, Englisch, Latein und Französisch gelernt und später Französisch, Spanisch und Deutsche Philologie studiert. Seit 2015 unterrichtet sie am  Sprachenzentrum Deutsch als Fremdsprache und auf Anfrage auch österreichische Dialekte.

 


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Sprachen öffnen Herzen


1 Name geändert.
2 Kommt nur herein!
3 Rumänisch: danke.
4 Macht euch keine Sorgen.

Aus technischen Gründen müssen wir uns bei allen Rumänischprechenden für die teils ungenaue Schreibweise der rumänischen Wörter entschuldigen.